Muskeldystrophien

[Progressive] Muskeldystrophien: Oberbegriff für verschiedene erbliche Muskelkrankheiten, die durch einen fortschreitenden Muskelschwund bis hin zur Lähmung gekennzeichnet sind. Bei der häufigsten Form, der Duchenne-Muskeldystrophie, sind aufgrund des X-chromosomalem Erbgangs fast ausschließlich Jungen betroffen. Sie zeigt sich früh mit Gangstörungen, ab der Pubertät sind die Kinder meist gehunfähig und benötigen einen Rollstuhl. Durch Befall der Herz- und Atemmuskulatur entwickeln sich Herzschwäche und Luftnot, die Patienten sterben oft vor dem 25. Lebensjahr. Bei den anderen Muskeldystrophien kommt es erst später zu Beschwerden und die Lebenserwartung ist weniger stark eingeschränkt.

Muskeldystrophien sind nicht heilbar. Die Therapie besteht in Behandlung der Beschwerden mit intensiver Physiotherapie, operativer Behandlung von Sehnenverkürzungen oder Wirbelsäulenverkrümmung und in späten Phasen palliativer Betreuung, z. B. mithilfe einer Heimbeatmung.

Leitbeschwerden

  • Zunehmende Muskelschwäche ohne Schmerzen
  • Auffälliger Watschelgang bis zur Gehunfähigkeit
  • Sprachentwicklungsstörungen
  • Verdickte Waden, Spitzfüße, Hervorstehen der Schulterblätter
  • Zunehmende Luftnot.

Wann in die Arztpraxis

Muskeldystrophien fallen die Kinderärzt*in oft bei einer der regelmäßigen U-Untersuchungen auf. Ansonsten ist eine Ärzt*in aufzusuchen bei

  • unerklärbarer Muskelschwäche
  • auffälligem Gang
  • Schwäche, sich aufzurichten (das Kind stützt sich aufgrund der schwachen Oberschenkelmuskeln beim Aufrichten mit den Händen auf den Oberschenkeln ab, Gowers-Zeichen)
  • Sprachentwicklungsstörungen.

Die Erkrankung

Muskeldystrophien sind erbliche Erkrankungen, die durch eine Störung des Muskelstoffwechsels zu einem fortschreitenden Muskelschwund führen. Dabei wird z. B. durch Mutationen im Dystrophin-Gen das wichtige Muskelprotein Dystrophin gar nicht oder nur vermindert gebildet. In der Folge stirbt das Muskelgewebe ab und wird zunehmend mit Fett- und Bindegewebe ersetzt.

Formen

Die verschiedenen Erkrankungen unterscheiden sich in ihrem Erbgang, Zeitpunkt und Ort des Beschwerdebeginns sowie in der Geschwindigkeit des Fortschreitens.

Am häufigsten ist die Muskeldystrophie vom Typ Duchenne, auch als aufsteigende bösartige Beckengürtelform der Muskeldystrophie bezeichnet, von der etwa vier von 100.000 Kindern betroffen sind. Aufgrund eines Gendefekts fehlt das Muskelprotein Dystrophin komplett. Der Gendefekt wird X-chromosomal vererbt, das bedeutet, dass vor allem Jungen daran leiden. Erben Mädchen das veränderte Gen, tragen sie in der Regel auf dem zweiten X-Chromosom die gesunde Variante und entwickeln keine Muskeldystrophie. Sie geben aber als sogenannte Konduktorinnen das kranke Gen an 50 % ihrer Söhne weiter, die dann – da sie kein 2. unbetroffenes X-Chromosom, sondern ein Y-Chromosom besitzen – daran erkranken. Kinder mit einer Duchenne-Muskelatrophie zeigen zunächst eine Schwäche der Becken- und Oberschenkelmuskulatur. Sie lernen spät laufen, scheinen ungeschickt und bekommen einen "watschelnden" Gang. Bald können sie z. B. Treppen nicht mehr steigen und sind schon mit etwa 13 Jahren an den Rollstuhl gefesselt, parallel dazu kommt es zu schmerzhaften Fehlstellungen von Gelenken und Knochenverformungen. Die Lähmungen breiten sich immer mehr aus und führen dadurch zu Atemstörungen mit der Gefahr einer Lungenentzündung. Durch Herzbeteiligung bildet sich eine Herzschwäche aus. Ein Teil der Betroffenen hat zusätzlich eine Intelligenzminderung, diese zeigt sich auch darin, dass manche Kinder nicht richtig sprechen lernen. Die Erkrankten werden nur selten älter als 20–25 Jahre.

Langsamer, aber prinzipiell gleich verläuft die Muskeldystrophie vom Typ Becker-Kiener oder aufsteigende gutartige Beckengürtelform der Muskeldystrophie. Auch hier ist das Dystrophin-Gen gestört, das Muskelprotein Dystrophin wird vermindert gebildet, fehlt aber nicht ganz. Die Beschwerden beginnen deshalb meist erst später, etwa mit 10 Jahren, und schreiten nur ganz langsam fort, sodass viele Erkrankte 60 Jahre und älter werden.

Außerdem gibt es Formen mit bevorzugtem Befall der Extremitäten oder des Gesichts, des Schultergürtels und der Arme.

Diagnosesicherung

Bei Verdacht erfolgt zuerst eine gründliche neurologische Untersuchung. Die Ärt*innen achtet dabei auf Lähmungen, Muskelschwäche und Veränderungen der Muskeleigenreflexe. Er prüft den Gang und lässt den Patienten sich aus der Bauchlage aufrichten (Gowers-Zeichen). Kinder mit einer Duchenne-Muskelatrophie fallen auch häufig durch Spitzfüße und durch Fetteinlagerungen verdickte Wadenmuskulatur auf.

Zur Sicherung der Diagnose und zur Kontrolle und Dokumentation des Verlaufs dienen folgende Verfahren:

  • Blutuntersuchung auf die Kreatin-Phosphokinase. Dieses Enzym weist auf eine Muskelschädigung hin und ist bei der gutartigen Muskeldystrophie auf das 10–35-Fache, bei der Duchenne-Muskeldystrophie auf das 50–200-Fache erhöht.
  • Elektromyografie der betroffenen Muskeln. Dabei werden feine Nadeln in einen Muskel eingestochen und darüber die elektrische Aktivität des Muskels in Ruhe und bei willkürlicher Bewegung gemessen.
  • Muskelbiopsie. In manchen Fällen entnehmen die Ärzt*innen auch ein kleines Stückchen Muskelgewebe (Biopsie), um den gestörten Muskelstoffwechsel im Gewebe nachzuweisen. Dabei finden sich bei allen Muskeldystrophien abgestorbene Muskelzellen und Fett- und Bindegewebe im Muskel. Mit speziellen Färbemethoden können die Ärzt*Innen zwischen der Duchenne-Muskelatrophie und der gutartigen Becker-Kiener-Dystrophie unterscheiden.
  • Molekulardiagnostik. Bei sehr hohen Werten der Kreatin-Phosphokinase veranlassen die Ärzt*innen auch statt einer Muskelbiopsie die Untersuchung einer Blutprobe auf Genmutationen. Der Nachweis von Genmutationen ist aber nicht nur für die Diagnose wichtig, sondern auch für eine genetische Beratung. Getestet werden sollten auch Familienangehörige, z. B., um herauszufinden, ob Schwestern eines Jungen mit Duchenne-Muskeldystrophie evtl. Konduktorinnen der Erkrankung sind.
  • Ultraschalluntersuchung. Im Ultraschall können die Ärzt*innen umgebautes Muskelgewebe erkennen. Dieses Verfahren dient vor allem der Verlaufsbeobachtung.
  • Magnetresonanztomografie. In manchen Fällen benötigen die Ärzt*innen MRT-Aufnahmen, mit denen sich der fettige Umbau der Muskeln gut erkennen lässt.
  • EKG, Herz-Echo. Die Mitbeteiligung des Herzens prüfen die Ärzt*Innen, indem sie mit dem EKG und dem Langzeit-EKG nach Herzrhythmusstörungen fahnden. Eine Herzmuskelschwäche weisen sie mit dem Herz-Echo, also der Ultraschalluntersuchung des Herzens nach.
  • Multispektrale optoakustische Tomografie. Mit diesem neu entwickelten, strahlungsfreien und nicht-invasiven Verfahren können die Ärzt*innen den Bindegewebsanteil im Muskel nachweisen. Die Methode ist noch in der klinischen Prüfung, sie soll in Zukunft die Dokumentation des klinischen Verlaufs verbessern und mögliche therapeutische Wirkungen nachweisen.

Differenzialdiagnosen. Fortschreitende Lähmungen mit Beginn an den Beinen weisen z. B. die spinalen Muskelatrophien, die Amyotrophe Lateralsklerose und die Polymyositis auf.

Behandlung

Bis heute können Muskeldystrophen nicht geheilt werden, die Behandlung zielt deshalb vor allem darauf, das Leiden zu lindern.

  • Basismaßnahmen. Die Basismaßnahmen dienen dazu, die verbliebene Muskelfunktion zu verbessern bzw. so lange wie möglich zu erhalten. Außerdem beugen sie der Versteifung von Muskeln und Gelenken vor und verbessern Fehlhaltungen, die zu Schmerzen führen. Die Betroffenen lernen, besser mit der Erkrankung und ihren Einschränkungen umzugehen, was die Aktivitäten im täglichen Leben erleichtert und die Lebensqualität erhöht. Eine umfassende psychosoziale Betreuung hilft den Erkrankten und ihren Familien, die zunehmende Belastung auszuhalten und Entscheidungen zu treffen, z. B. bezüglich einer Heimbeatmung. In späten Stadien kommen vor allem unterstützende Maßnahmen für die Nahrungsaufnahme und die Atmung dazu. Eingesetzt werden dazu
    • Physiotherapie, Krankengymnastik, Schwimmen in warmem Wasser
    • Ergotherapie und Logopädie
    • Atemtherapie mit Atemübungen
    • Osteopathie, manuelle Therapie
    • jährliche stationäre Rehabilitationen in speziellen Zentren
    • Psychotherapie
    • Heimbeatmung (in spätem Stadium)
    • Magensonde (in spätem Stadium).
  • Pharmakotherapie
    • Herzmedikamente zur Unterstützung der Herzschwäche
    • Ataluren (z. B. Translarna®) ist seit 2018 zugelassen für gehfähige Patienten über 2 Jahren, die an einer Duchenne-Muskeldystrophie mit speziellem Gendefekt leiden. Der Wirkstoff bessert bei einigen Patient*innen die Gehfähigkeit, allerdings leider nur in Maßen. Häufige Nebenwirkung bei dieser Therapie sind Erbrechen, Durchfall, Bauchschmerzen und Kopfschmerzen.
    • Kortison soll bei der Muskeldystrophie Typ Duchenne evtl. den Krankheitsverlauf etwas verzögern, dies muss aber gegen die Nachteile einer Langzeitbehandlung abgewogen werden.
  • Operationen
    • Verlängerung von durch Dauerkontraktion verkürzten Sehnen
    • Operative Lösung von verkürzten Muskeln
    • Versteifung der Wirbelsäule zur Stabilisierung
  • Genetische Beratung
    • Allen Betroffenen (bzw. bei Kindern ihren Eltern) wird eine genetische Beratung angeboten, um das Wiederholungsrisiko für weitere Kinder abzuschätzen. Ein Teil der Muskeldystrophien kann bereits vor der Geburt festgestellt werden.

Prognose

Bei der häufigsten Form, der Duchenne-Muskeldystrophie, ist die Prognose ernst. Die Betroffenen sterben am fortschreitenden Abbau der Herz- und Atemmuskulatur meist im Alter von 20 bis 25 Jahren.

Die anderen Muskeldystrophien haben eine deutlich bessere Lebenserwartung als die Duchenne-Dystrophie, bei der Becker-Kiener-Variante werden viele Betroffene 60 Jahre und älter.

Ihre Apotheke empfiehlt

Die Diagnose Muskeldystrophie ist für die Betroffenen und ihre Angehörigen zunächst meist ein Schock. Auch wenn die Erkrankten in der Regel vom Zeitpunkt der Diagnose in der Kindheit an durch ein Team von Spezialisten begleitet werden, ist bei den Betroffenen und ihren Familien ein hohes Maß an Verantwortung und Selbsthilfe gefragt.

  • Machen Sie sich frühzeitig Gedanken, wie Ausbildung, Berufsleben, Wohnsituation aussehen.
  • Nutzen Sie alle möglichen Hilfen und Ressourcen, auf die Sie einen Anspruch haben. Zögern Sie nicht, professionelle Hilfe anzunehmen.
  • Achten Sie auf Zeichen der Depression und Angst, suchen Sie frühzeitig psychotherapeutische Hilfe auf.
  • Wenn Ihr Kind von einer Muskeldystrophie betroffen ist, achten Sie auf seine Sprachentwicklung und suchen Sie bei Störungen frühzeitig Hilfe.
  • Bekommen Sie oder Ihr Kind Kortison verschrieben, achten Sie auf eine bewusste Ernährung, um der drohenden Gewichtszunahme vorzubeugen. Sorgen Sie für eine altersgerechte ausreichende Kalziumzufuhr.
  • Wichtig ist es auch, frühzeitig darüber zu entscheiden, wie die palliative, d. h. die lindernde ärztliche und pflegerische Unterstützung aussehen soll, wenn die Muskeln von Herz oder Atemsystem immer schwächer werden. Besprechen Sie in der Familie, ob eine Heimbeatmung gewünscht ist.
  • Wenn Sie selbst an einer Muskeldystrophie leiden legen Sie frühzeitig fest, wer in Notsituation bevollmächtigt ist, in Ihrem Namen Entscheidungen zu treffen.

Weiterführende Informationen

Der gemeinnützige Verein Deutsche Muskelschwund-Hilfe unterstützt Betroffene und ihre Familien mit Rat und Informationen: https://www.muskelschwund.de Einen ausführlichen Familienratgeber zur Muskeldystrophie Duchenne kann man auf der Webseite von Treat-NMD Neuromuscular Network unter folgendem Link herunterladen: https://treat-nmd.org/wp-content/uploads/2019/11/uncategorized-Duchenne_Ratgeber.pdf

Autor*innen

Dr. med. Nicole Menche in: Gesundheit heute, herausgegeben von Dr. med. Arne Schäffler. Trias, Stuttgart, 3. Auflage (2014). Überarbeitung und Aktualisierung: Dr. med. Sonja Kempinski | zuletzt geändert am um 16:07 Uhr


Wichtiger Hinweis: Dieser Artikel ist nach wissenschaftlichen Standards verfasst und von Mediziner*innen geprüft worden. Die in diesem Artikel kommunizierten Informationen können auf keinen Fall die professionelle Beratung in Ihrer Apotheke ersetzen. Der Inhalt kann und darf nicht verwendet werden, um selbständig Diagnosen zu stellen oder mit einer Therapie zu beginnen.