Neue Techniken – neue Hoffnungen

Nach der Erfindung der Antibiotika hieß es, die Infektionskrankheiten seien bald besiegt. Die Presse schrieb begeistert, die Menschheit sei gerade dabei, „das Kapitel der Infektionskrankheiten für immer zu schließen“. Und mancher erinnert sich noch an die Euphorie nach Abschluss des Humanen Genom Projekts(Human Genome Project), in der nicht wenige Meinungsträger in der Medizin davon ausgingen, dass „Diabetes, Krebs und die Alzheimersche Krankheit“ schon bald Geschichte sein würden. Wen wundert es da, dass dieselben Krankheiten nun auch durch die Stammzelltherapie demnächst (endgültig) verschwunden sein sollen?

Die Versprechungen der Gentherapie haben sich in den letzten Jahren in Luft aufgelöst. Wie sich herausstellte, waren die Grundannahmen dieser Technik, dass jedes Gen eine einzige, genau festgelegte und dadurch medizinisch nutzbare Funktion im Körper ausübt, falsch. Heute ist bekannt, dass die meisten Gene sehr viele verschiedene Aufgaben wahrnehmen – je nachdem, wie sie durch andere Gene und Umwelteinflüsse beeinflusst werden; und das macht den medizinischen Einsatz von Genen bzw. ihre gezielte Ausschaltung zu einem nur schwer kalkulierbaren Risiko

Magische Versprechungen

Betrachtet man die Geschichte der Forschung, so wird klar, dass die in der Medizin gerade bejubelten Werkzeuge immer auch ein „magisches“ Element besitzen: Jede Generation findet bestimmte Techniken „fortschrittlich“ oder verheißungsvoll. Wenn die Medizin heute zur Heilung von Zivilisationskrankheiten auf Stammzellen, Gentherapie und Nanotechnik setzt, so spricht daraus auch der Glaube unserer Zeit, Probleme ließen sich am besten durch technische Eingriffe, Medikamente oder allgemein durch immer bessere Werkzeuge lösen.

Die Agenda der Forschung

Oft wird davon ausgegangen, in der Forschung ginge es vor allem um Treffsicherheit: Möglichst gute Methoden sollen möglichst akkurate Antworten ermöglichen.

Doch die Qualität der Antworten ist in der medizinischen Forschung nur die eine Seite der Medaille. Nicht minder wichtig ist die andere Seite: Wie gut sind die Fragen, die die Forschung stellt? Wie interpretiert sie ihre Ergebnisse? Welchen Inhalten wendet sie sich zu? Welche Krankheiten erforscht sie? Welche Arzneimittelgruppen und welche Behandlungsformen findet sie attraktiv?

<h3">Wer stellt die Fragen?

Und hier hat sich eines gezeigt: Welche Fragen in der medizinischen Forschung gestellt werden, hat auch damit zu tun, wer die Fragen stellt. War die medizinische Forschung noch vor 30 Jahren zu über zwei Dritteln durch öffentliche Mittel finanziert, so wird inzwischen die überwiegende Mehrzahl der medizinischen Studien von der pharmazeutischen Industrie bezahlt, und dieser Anteil nimmt weiter zu

Die Industrie hat bei ihren Fragestellungen verständlicherweise weniger das öffentliche Interesse im Blick als vielmehr ihre Bilanzen. Entsprechend wendet sie sich vor allem Fragen zu, deren Antworten finanziellen Gewinn versprechen. Das mag mit dem übereinstimmen, was gut für die Patienten ist – oder auch nicht. Für die Krankheiten der Menschen in armen Ländern, für Tuberkulose etwa, die jedes Jahr drei Millionen Menschenleben in der Dritten Welt fordert, wird derzeit nur ein Bruchteil der Forschungsgelder eingesetzt, die etwa für die Entwicklung neuer Medikamente gegen Heuschnupfen ausgegeben werden.

Vor diesem Hintergrund ist der von Brian McGlynn, Vorstandssprecher des US-Pharmaherstellers Pfizer, im Rahmen der Diskussion über Viagra® geäußerte Satz: „[Man sagt uns nach], wir seien mehr daran interessiert, einem reichen Weißen eine Erektion zu verschaffen als einem Afrikaner mit AIDS zu helfen“, gar nicht so weit hergeholt.

Aus der Tatsache, dass heute vor allem die Industrie bestimmt, was erforscht und wie geforscht wird, ergibt sich aber ein zweites Problem: Nutzen und Nachteile eines Medikaments werden häufig nicht unvoreingenommen geprüft. So werden Medikamente häufig an jüngeren, gesunden Freiwilligen getestet, auch wenn sie im „echten Leben“ dann vorwiegend von älteren, kranken Menschen eingenommen werden. Und immer wieder fällt an von der Industrie finanzierten Studien auf, dass Vergleichsmedikamente, gegen die ein neues Präparat getestet wird, in zu geringer Dosis verabreicht werden; das getestete Medikament schneidet dann besser ab.

Und ein weiteres Problem ist kaum vermeidbar: Von der Pharmaindustrie bezahlte Wissenschaftler neigen dazu, die Ergebnisse im Sinne ihrer Auftraggeber zu veröffentlichen und zum Beispiel negative Befunde zu verschweigen.

Zahlreiche Untersuchungen zur Objektivität von Studien geben den Kritikern Recht: Ist eine Studie mit Unterstützung der Industrie entstanden, ist es viermal wahrscheinlicher, dass positive Ergebnisse herauskommen als bei einer Untersuchung, die anderweitig finanziert wurde

Was Forscher antreibt

Hinzu kommt die Interessenlage der Forscher. Verständlicherweise bearbeiten sie vor allem solche Fragen, die sie den Trophäen des akademischen Lebens näher bringen – und da heißt die Regel klipp und klar: Publizieren oder untergehen(publish or perish). Karrieren richten sich deshalb an solchen Themen aus, die die meisten „papers“ (Publikationen) und Forschungsgelder versprechen. Langfristige, oder im Wissenschaftsbetrieb weniger „verwertbare“ Projekte bleiben da oft am Rande liegen.

Eingebaute „Relevanzlücke“

Wie stark die Forschungsaktivitäten in der Medizin durch solche „Verwertungsinteressen“ beeinflusst werden, zeigt auch Folgendes: Während heute mehr als 50 Medikamente gegen Bluthochdruck erforscht und verfügbar sind, gibt es nur wenige Untersuchungen zur medizinischen Trainingstherapie (Bewegungstherapie) – und das, obwohl der Bewegungstherapie im Rahmen vieler chronischer Erkrankungen eine Schlüsselrolle zukommt. Dahinter steht die einfache Tatsache: Auch mit dem 51. Hochdruckmittel lässt sich Geld verdienen, von wissenschaftlich fundierten Empfehlungen zu mehr Bewegung profitieren allenfalls die Krankenkassen.

Die Relevanzlücke der medizinischen Forschung erklärt auch einen anderen ärgerlichen Missstand: Trotz ihrer Bedeutung für eine alternde und mit chronischen Erkrankungen belastete Gesellschaft ist die Selbsthilfe kaum im Blickwinkel der Forschung. Auch die Frage, wie Gesundheit in den Lebenswelten der Menschen – sei es im Kindergarten, in der Schule oder am Arbeitsplatz – am besten gefördert werden kann, bleibt zusammen mit anderen Fragen der Prävention meist außen vor.

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Wie Wissenschaft funktioniertEvidenzbasierte Medizin

Autor*innen

Dr. med. Herbert Renz-Polster | zuletzt geändert am um 12:39 Uhr