Wissenschaftliche Prüfung von Naturheilverfahren: Pro und Kontra

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Studien sind wichtig, um eine Therapiewirkung objektiv einzuschätzen.

Wissenschaftliche Prüfung: Kontra!

Auf die „Wirkung unter dem Strich“ kommt es an. Und dabei, so meinen nicht wenige Verfechter von Naturheilverfahren, könnte man es doch belassen. Ob sich die Wirkung auf spezifische oder unspezifische Effekte gründet, sei für Patient*innen egal: Wer heilt, hat Recht. Zudem seien die spezifischen Wirkungen von den unspezifischen oft gar nicht zu trennen. Ein Antibiotikum mag wirken, wenn es über das Internet bestellt wird, aber bei den Naturheilverfahren seien nun einmal Beziehungen wichtig – Anwender und Mittel seien eine Einheit.

Streitfall Doppelblindstudien. Viele Verfechter*innen von Naturheilverfahren lehnen deshalb konsequente wissenschaftliche Untersuchungen wie etwa randomisierte Doppelblindstudien ab. Letztere wurden entwickelt, um die spezifische Wirkung einer Therapie zu messen – und die unspezifische Wirkung komplett außen vor zu lassen.

Mit solchen „künstlichen“ Studien, so die Kritik vieler Naturheilkundler*innen, werde jedoch das unterschlagen, was die Medizin seit ihren Anfängen genutzt hat und auf was sich die ärztliche Heilkunst  schon immer mitgegründet hat: die Beziehung der Patient*in zur Therapeut*in. Ist der Trend zu den Naturheilverfahren nicht gerade dadurch entstanden, weil die Schulmedizin die Herzen der Menschen nicht mehr erreicht? Sollen die Naturheilverfahren den Irrtum der Schulmedizin jetzt – auf Drängen der Schulmedizin – wiederholen? Und setzt nicht auch die Schulmedizin zuhauf auf unspezifische Wirkungen – sei es über den „Professorenbonus“ oder über die Strahlkraft hochtechnischer Untersuchungen?

So fragt etwa Dr. Ellis Huber, der ehemalige Präsident der Berliner Ärztekammer, warum nur das anerkannt werden solle, was „unabhängig von Beziehungen, seelischen oder geistigen Kräften und sozialer Lage wirkt“. Randomisierte Doppelblindstudien lehnt auch Dr. Huber als Standard zum Wirkungsnachweis in der Heilkunde ab und setzt dagegen: „Das Leben ist ein dynamisches, kommunizierendes Gewebe, ein Gewirr von Wechselwirkungen, in dem Geist und Materie, Leib und Seele miteinander in Beziehung stehen und sich gegenseitig beeinflussen“. [X03]

Wichtige Wirkungen: nicht messbar. Gegner einer rigorosen wissenschaftlichen Überprüfung weisen auch auf das Passungsphänomen hin: Ein Verfahren wirkt dann am besten, wenn es zu den Erwartungen und der Persönlichkeit der Patient*in passt. Die Patient*in braucht nicht die – nach exakten Methoden für  „Standardpatienten“ entwickelte – beste Therapie, sondern die für isie oder ihn als Individuum richtige. Nur wer sich von einem Verfahren „angesprochen“ fühlt, wird dessen Potenzial nutzen können. Und wie sollen statistische Verfahren das überprüfen?

Viele Verfechter*innen von Naturheilverfahren wollen sich deshalb allenfalls auf „weiche“ wissenschaftliche Überprüfungen einlassen – wenn die Wirkung von Naturheilverfahren geprüft werden solle, dann bitte schön der Gesamteffekt. Wo „Hülle und Inhalt“ zusammenwirken, solle auch die Wirkung des ganzen Pakets gemessen werden – anstelle von 35s62|Doppelblindstudien, die auf den Nachweis einer spezifischen Wirkung abzielen, sollten Beobachtungsstudien durchgeführt werden, welche die mit dem Verfahren „unter dem Strich“ erzielten Besserungen messen.

Wissenschaftliche Prüfung: Pro!

Die Befürworter*innen einer wissenschaftlichen Überprüfung der Naturheilverfahren halten dagegen: Vor der Empfehlung eines Medikaments oder Verfahrens müsse bekannt sein, ob dieses „aus sich heraus“ – also spezifisch – wirke. Man müsse wissen, ob ein Medikament nur wirkt, wenn man sich mit der Ärzt*in gut versteht oder auch dann, wenn man den Arzt nicht leiden kann. Was würden denn Patient*innen von Schulmedizinern halten, die sich weigern, ein Medikament zu testen, da dieses nur funktioniere, wenn ein Professor es verordne oder wenn die Ärzt*in zumindest einen weißen Kittel trüge?

Und für einen solchen Nachweis, so die Verfechter*innen eines wissenschaftlichen Herangehens, reiche die Erfahrung der Therapeut*innen nicht aus. „Dass dieses Medikament wirkt, sehe ich doch täglich in der Praxis“ ist kein Beweis für eine Wirkung über unspezifische Effekte hinaus. Und auch die oft bemühte „Stimme des Volkes“ hilft nicht weiter („Millionen zufriedene Anwender können nicht irren“) – Konsens ist kein Wirknachweis.

Zu einer verlässlichen Aussage über eine reproduzierbare (wiederholbare) Wirkung sind objektive Prüfungen unerlässlich, bei denen Zufall, Therapeut*in und Suggestion außen vor bleiben – die Einheit von Verfahren und Anwender soll aufgebrochen, die Verpackung vom Inhalt getrennt werden.

Und das schaffen nur randomisierte Doppelblindstudien (in diesen Studien werden die erzielten Besserungen mit denen eines Placebos verglichen). Nicht umsonst muss die Arzneimittelindustrie jedes Jahr Milliarden für diese Studien ausgeben – der spezifische Wirknachweis ist heute die Voraussetzung für die Medikamentenzulassung.

Dass objektive Wirknachweise grundsätzlich auch bei naturheilkundlichen, individuell wirkenden Verfahren wie etwa der Homöopathie erbracht werden können, zeigt folgendes Beispiel:

Drei homöopathisch arbeitende Hautärzt*innen einer mittelgroßen Stadt bitten alle neu in ihre Praxen kommenden Patient*innen schriftlich um Teilnahme an einer Studie über die Wirkung der homöopathischen Behandlung bei Neurodermitis. Die Voraussetzung zur Teilnahme: Sollte sich bei der Konsultation die Diagnose einer Neurodermitis ergeben, so müssen sich die Patient*innen bereit erklären, statt eines homöopathischen Medikaments eventuell ein Placebo zu bekommen. Zu den Bedingungen der Studie gehört auch, dass die Patienten ihre Medikamente immer in einer bestimmten Apotheke abholen und sich nach einem Zeitraum von drei Monaten von einer unabhängigen Hautärzt*in untersuchen lassen.

Die Apotheke, bei der sich die teilnehmenden Patient*innen ihre Verordnungen abholen, hat nun folgende Aufgabe: Auf allen mit einem roten „S“ markierten Verordnungen (das ist das vereinbarte Zeichen für „Studienteilnehmer“) prüft er das Geburtsdatum. Alle Patient*innen mit einer ungeraden Jahreszahl bekommen – in einer neutralen Verpackung – die verordneten homöopathischen Medikamente ausgehändigt, die mit einer geraden Jahreszahl ein gleich aussehendes Placebo. Die nach drei Monaten Behandlung aufzusuchende unabhängige Hautärzt*in dokumentiert die Befunde nach ihrem Schweregrad auf einer Skala von 1 bis 10 (ihm ist natürlich nicht bekannt, welche der Patient*innen homöopathisch behandelt wurden und welche nicht).

Sind ausreichend viele Patienten untersucht, kann nun der Studienleiter die Ergebnisse auswerten, d. h., die von der unabhängigen Hautärzt*in erhobenen Befunde der Behandlung zuordnen. Findet er statistisch keinen Unterschied in den Hautbefunden zwischen Patient*innen aus „ungeraden“ und solchen aus „geraden“ Geburtsjahren, so ist eine spezifische Wirkung des verordneten Homöopathikums nicht anzunehmen.

Es gibt aber noch weitere Argumente für die wissenschaftliche Überprüfung:

  • Jede Behandlung bedeutet einen Eingriff in den Körper und die Seele der Patient*in. Er investiert Vertrauen, Energie und Geld. Wenn eine Methode nur bei bestimmten Therapeut*innen funktioniert und bei anderen nicht, sollte die Patient*in dies wissen – und sich dann selbst entscheiden, ob er sich auf den Versuch einlässt.
  • Auch wenn unmittelbare Nebenwirkungen bei Naturheilverfahren selten sind: Patient*innen können auch bei sanften Verfahren zu Schaden kommen – vor allem dann, wenn wirksamere Therapien unterlassen werden.

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Autor*innen

Dr. med. Herbert Renz-Polster in: Gesundheit heute, herausgegeben von Dr. med Arne Schäffler. Trias, Stuttgart, 3. Auflage (2014). | zuletzt geändert am um 12:09 Uhr