Immer wieder im Kreuzfeuer: die Psychiatrie

Immer wieder im Kreuzfeuer: die Psychiatrie

Psychiater stehen nicht selten in der Kritik, die Psychiatrie ist ohne Zweifel das umstrittenste Gebiet der modernen Medizin. Und dies hat seine Gründe: Bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts bestand die Therapie psychischer Erkrankungen praktisch nur aus der Verwahrung der Patienten in weitab der Städte gebauten Anstalten. Die damaligen Zustände prägen auch heute noch für viele das Bild einer entmündigenden Psychiatrie. Filme wie „Einer flog über das Kuckucksnest“ (1975) taten ein Übriges, psychiatrische Kliniken als Inbegriff institutionalisierter Gewalt zu sehen.

Obwohl wir – historisch gesehen – einen einzigartigen Lebensstandard genießen und auch im medizinischen Bereich teilweise üppige Versorgungsstrukturen aufgebaut haben, besteht im Bereich der psychischen Krankheiten weiterhin eine Unterversorgung. Wie seriöse Untersuchungen zeigen, vergehen oft Jahre, bis eine psychische Erkrankung richtig behandelt wird. Psychiatrische Krankenhäuser sind manchmal weit von den Wohnorten entfernt, Wartelisten sind – außer für Privatpatienten – oft viele Monate lang, und als neues Problem lässt auch die Bereitschaft der Kassen, die Kosten für notwendige Therapien zu übernehmen, immer mehr nach.

Besonders kritisch zu sehen ist die Rolle der Psychiatrie in Diktaturen wie der ehemaligen DDR und der UdSSR: Millionen Menschen wurden in der Psychiatrie auf Geheiß des Sicherheitsapparats gemaßregelt und weggesperrt. Nicht anders war die Rolle der Psychiatrie in Kriegszeiten: Sigmund Freud bezeichnete die Militärpsychiater des Ersten Weltkriegs als „Maschinengewehre hinter der Front“, da sie rücksichtslos alles daran setzten, um traumatisierte Soldaten möglichst rasch an die Front zurückzubringen. Im Nationalsozialismus schließlich wurden systematisch psychisch Kranke zwangssterilisiert und getötet.

In demokratischen Gesellschaften ist diese Vereinnahmung der Psychiatrie durch die Herrschenden unvorstellbar, doch die Kritik ist trotzdem nicht abgerissen. Das neueste Konfliktfeld ist die angeblich allzu oft unzutreffende Einschätzung und Beurteilung von Sexualstraftätern durch psychiatrische Gutachter. Entlassene werden wieder straffällig, obwohl psychiatrische Fachgutachten eine gute Prognose attestieren.

Zu bedenken ist jedoch, dass die Beeinflussung oder gar Vortäuschung einer psychischen Störung (oder ihrer Behebung) einfacher ist als die Simulation einer Herz-, Lungen- oder anderen organischen Erkrankung, wo eindeutige Laborwerte oder Röntgenbefunde vorliegen. Aktuelle Forschungsprojekte versuchen deshalb, neue Prognosekriterien für psychisch auffällige Straftäter auf wissenschaftlicher Basis zu erarbeiten und täuschungssicherer zu machen.

Die Psychiatrie ist immer auch ein Spiegelbild der Gesellschaft. Entsprechend gelten viele ihrer traditionellen Krankheitsbegriffe heute als überholt. Im 19. Jahrhundert war z.B. die „Hysterie“ in aller Munde: Im Bild der berühmte französische Arzt Charcot (1825–1893), der eine „hysterische“ Patientin vorführt. Heute gilt die Hysterie als Relikt einer frauenfeindlichen Medizin, die entsprechenden Symptome werden z.B. als dissoziative Störung bezeichnet.
[GTV 3003]

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zuletzt geändert am um 10:25 Uhr