Übergewicht – überschätztes Risiko?
Die Frage nach dem richtigen Gewicht ist in unserer Gesellschaft ein ständiges Thema. Jedes Gramm Fett am Körper ist mehr oder weniger verpönt und Übergewichtige werden regelrecht diskriminiert. Sie passen nicht in das Ideal von Schönheit und Erfolg. Jetzt können sie sich freuen, denn eine aktuelle Studie beweist: Das Hüftgold hält entgegen aller Annahmen gesund und erhöht sogar die Lebenserwartung. Zu diesem erstaunlichen Ergebnis kam die Hamburger Gesundheitswissenschaftlerin Ingrid Mühlhauser in einer ausführlichen Analyse.
Im Interview mit Stefanie Grutsch spricht sie über ihre Erkenntnisse und gesunde Körperformen.
Frau Professorin Mühlhauser, seit Jahren hören wir nichts anderes, als dass Übergewicht für jede Menge chronischer Krankheiten verantwortlich ist - müssen wir angesichts Ihrer Forschungsergebnisse komplett umdenken?
Auf die Lebenserwartung von erwachsenen Menschen hat das Übergewicht jedenfalls keine negativen Auswirkungen. Im Gegenteil, magere Menschen sterben früher als solche, die bisher als mollig galten. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse sind allerdings nicht ganz neu, sie wurden nur nicht zur Kenntnis genommen.
Für Menschen, die Diabetes, hohen Blutdruck oder Fettstoffwechselstörungen haben, gilt jedoch auch weiterhin, dass durch Abnahme von nur wenigen Kilos Blutzucker, Blutdruck und Blutfette besser unter Kontrolle zu bringen sind.
Wie genau ist Ihre Studie abgelaufen und was haben Sie herausgefunden?
Wir haben 27 internationale Metaanalysen und 15 deutsche Kohortenanalysen ausgewertet und das Ergebnis ist: Die Sterblichkeit ist bei Übergewicht im Vergleich zu Normalgewicht nicht erhöht. Bei Fettleibigkeit allerdings schon.
Wann fing nach früherer Auffassung Übergewicht an und wie sollten wir das künftig beurteilen?
Das erklärt sich am besten mit einem Beispiel: Bei einer Größe von 1,70 m wäre ein Gewicht von 50 kg als Untergewicht zu bezeichnen. Der so genannte Body-Mass-Index, kurz BMI, läge hier bei 17,3 kg pro Quadratmeter. Ein Gewicht zwischen 70 und 80 kg wäre nach unserer Studie das Gewicht mit der besten Lebenserwartung. Der BMI läge da aber schon zwischen 24 und 27. Bisher wurde ein BMI von 25 bis 29,9 kg pro Quadratmeter bereits als Übergewicht bezeichnet. Die Mehrheit der Deutschen ist nach diesem System übrigens übergewichtig. Das Beispiel aus unserer Studie zeigt also, dass Menschen, die als „übergewichtig“ gelten, eine längere Lebenserwartung haben als ganz Schlanke.
Der BMI alleine scheint also nicht aussagekräftig zu sein? Warum ist das so und welche Kriterien spielen noch eine Rolle?
In jedem Fall ist die persönliche Veranlagung von Bedeutung. Es gibt fettsüchtige Menschen, die trotzdem keinen erhöhten Blutdruck, Blutzucker oder Blutfette haben.
Wo sich das Fett ansetzt, spielt auch eine Rolle: gesünder ist, wenn es um die Hüften sitzt und nicht am Bauch. Männer – die ja bekanntlich eher am Bauch ansetzen – haben auch deshalb eine kürzere Lebenserwartung als Frauen, selbst wenn sie nicht fettsüchtig sind.
Leben "Dicke" also auf jeden Fall länger und wir sollten in Zukunft jede Diät vergessen?
Dicke leben nicht in jedem Fall länger als Magere, und Magere leben nicht in jedem Fall kürzer als Dicke. Aber Magere und Dicke haben mit anderen Krankheiten zu kämpfen. Bei Untergewicht können die Abwehrkräfte des Körpers zusammenbrechen. Der Körper hat dann keine Widerstandskraft mehr, z.B. bei Infektionskrankheiten wie einer Grippe. Auch bei anderen körperlichen Stresssituationen, wie Unfällen, Operationen oder anderen Erkrankungen, fehlen dem Körper Reserven. Der Körper ist ausgezehrt.
Das Körpergewicht ist für die Lebenserwartung von größerer Bedeutung als das, was wir essen, solange die Ernährung nicht einseitig ist. Eine ausgewogene Ernährung, die schmeckt ist wohl das gesündeste.